Die Hoffnung war es, die Martin rettete, ihm das Leben verlängerte, wieder und wieder, zwei Jahre, acht Monate und ein paar Tage lang. Versiegte sie, weil ein überforderter Arzt eine zynische Bemerkung machte, trat er den Rückzug an. Den Blick in den Abgrund der Hoffnungslosigkeit fliehend. Sein Umgang mit der Krankheit war nicht konfrontativ, sondern stoisch. Tumorformel, Überlebensprognosen – nähere Einblicke in das Geschehen mochte er nicht nehmen.
Auf die Bedrohung, der er ausgesetzt war, schien er mehr mit Verwunderung als mit Panik zu reagieren. Nach der ersten Operation im Februar 2012, nur knapp einer Querschnittslähmung entkommen, beschrieb er seinen Retter, den genialen Neurochirurgen am Virchow-Klinikum, als „Napoleon seiner Zunft“, die Prozedur, der er unterzogen wurde, als militärische Operation, das Krankenhaus als Heerlager. Eine mindere Fußnote zu einer Foucault’schen Geschichte der Institutionen – zarte Martin’sche Selbstironie, diesen souveränen Akt der Distanzierung zu benennen. Er wollte sich von Beginn an nicht als kämpfende Partei verstehen. Nein. Das Unheimliche war, es ging um ihn, der doch auf diesem Schlachtfeld nichts zu suchen hatte.
Martin hatte ein anderes Rettungsmittel gegen den Tod: seine unendlich wache, wissbegierige Teilnahme an der Welt. Absolute Gegenwärtigkeit – das wissen die Kampfkünstler – kann den Feind bezwingen.
Stets gab es ein Radio am Bett, den Tagesspiegel, den Guardian, die London Review of Books. Du, lieber Martin, mochtest es, wenn Besuch kam, man Dir erzählte. Dabei warst Du es, der viel mehr zu sagen hatte. Jedes Mal habe ich was Neues mitgenommen: den Hinweis auf einen Film, Bücher, von denen ich nie gehört hatte, zuletzt Arnold Zweigs Palästina-Roman „De Vriendt kehrt heim“. Ich mochte sie so, diese durchgearbeiteten Bücher, in denen Zettel, Exzerpte, Kinokarten, Flugblattschnipsel steckten. Eine bewirtschaftete Bibliothek, jahrzehntelang in Gebrauch, eher ein englischer Garten als ordentlich angelegte Regalbeete. Die Ordnung fand ja im Kopf statt.
Wir redeten über Politik, die Krim, Russland, die Ukraine. Und Du, aus dem Reservoir eines enzyklopädischen Wissens schöpfend, konntest eine Nachrichtenmeldung mit einem historischen Detail aus dem 19. Jahrhundert verknüpfen, konntest beurteilen, fragen. An den Strom der Stimmen der Welt angeschlossen.
Vermutlich war sie auch eine Deiner Radioentdeckungen: die Janacek-CD von Anzellotti. Anzellotti, der mir Satie entdeckte. Dessen tröstend-melancholische Gymnopédies wir, in der Klavierfassung, an Deinem letzten Lebensnachmittag hörten.
Diese Klänge schienen die Luft in Bewegung zu setzen, das Stockende – Beklemmung, Schmerz, Angst – für einen Moment aufzulösen.
Solange die Musik dauert, ist es gut. Auch wenn es keine Rettung mehr gibt. Solange man dem Strom der Klänge und Stimmen lauschen kann, ist es gut. „Der uralte Einspruch der Musik“, ihr Versprechen: „Ohne Angst Leben“. (Adorno)
Mach das Licht aus und das Radio an – das war Deine letzte Bitte, bevor ich ging, Dienstagabend, zehn vor acht, Du meintest, es sei schon Mitternacht.
Liebe Esther, Du hast Martin die Zeit erkämpft, die ihm noch blieb, ihn von Deiner Lebendigkeit und Kraft nehmen lassen. Nicht aus Heroismus, nicht aus Fürsorglichkeit, sondern weil ihr in den letzten zweidreiviertel Jahren so sehr Esther & Martin geworden seid, wie ich Euch zuvor nicht kannte. Du hast Dich mit der Hoffnung verbündet, Martins Pazifismus und Stoizismus mit Lebenslogistik abgesichert.
Wie viel Schönes habt Ihr noch gesehen und gemeinsam erlebt, wie viele Reisen gemacht – die Krim, Battonya, Leukerbad. Orte in England. Und immer war etwas am Entstehen; auch wenn Du es jetzt allein fortführen musst: „Wir haben das Gestalten erfunden: darum fehlt allem, was unsere Hände müde und verzweifelt fallen lassen, immer die letzte Vollendung.“ (Lukacs)
Aber welche Schätze wirst Du jetzt heben in all dem Unvollendeten!
“gezeichnetes gelände in gestundeter seligkeit der verwahrlosung gaukelnd“
Die gewonnene Zeit war gestundete Zeit. Das wusstet ihr.
Rettung um den Preis des Wartens und Zeittotschlagens, während die Lebenszeit ausrinnt – schreckliches, unvermeidliches Paradox. Gegenmittel: Liebe. Und die kleinen Zeremonien – das Teetrinken, Kuchenessen -,die dem Alltag Glanz verliehen.
Der letzte Aufschub war vielleicht der wunderbarste. Nach einer Lungenpunktion fühlte Martin sich wie neugeboren. Hanna war da und sie gingen spazieren – an einem dieser blau und golden strahlenden Tage, in diesem zögernden, sich vom Sommer nicht trennenden Oktober, der die Zeit still stehen ließ – als sei es für ihn.
Retten konnte ihn niemand, doch verloren ist Martin nicht. Die Menschen, die er liebte und die ihn lieben, die Musik, die er hörte, die Dinge, die er schrieb, die Straßen und Landschaften, die er noch durchwanderte in den angezählten Jahren und Monaten – all das wird nicht verlorengegeben. Von keinem von uns.
Vielleicht wird er da draußen, auf seinem Lieblingsfriedhof, hinein lauschen in das Gemurmel, die Stimmen des Abends. Vielleicht wird er mit Libuše Moníková, seiner Nachbarin, und den Brüdern Grimm ein Stück weiter oben ein Schwätzchen halten, wie Du, Esther, es dem traurigen kleinen Joe erklärt hast, als er mit gesenktem Kopf und gezücktem Schwert an der Stelle stand, wo sie seinen Großvater beerdigen würden.
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