Martin Chalmers (1948-2014)
Ein Londoner Verleger nannte ihn einen “Botschafter der deutschsprachigen Literatur”. Tatsächlich lernt eine englischsprachige Leserschaft Werke von Elfriede Jelinek, Herta Müller, Hubert Fichte, Thomas Bernhard oder Hans Magnus Enzensberger in seinen vortrefflichen Übersetzungen kennen. Dabei wissen seine Leserinnen und Leser seine Bucheinführungen zu schätzen oder auch den fundierten kritischen Apparat, der seiner Übersetzung der Tagebücher von Viktor Klemperer anhängt (für die er mit dem angesehenen Schlegel-Tieck Prize ausgezeichnet wurde).
Doch die Tätigkeiten eines Botschafters lassen sich nicht aufs öffentliche Auftreten beschränken: Sein zuverlässiges Urteilsvermögen fand auch hinter den Szenen das offene Ohr so bedeutender Verleger wie Malcolm Imrie (Verso), Pete Ayrton (Serpent’s Tail) und Naveen Kishore (Seagull). Durch Chalmers’ maßgebliche Mitgestaltung gewann der deutschsprachige Anteil dieser unabhängigen Verlagslisten an Format. Konnten solche ‚Flüsterdienste‘ zu seinem Lebensunterhalt wenig beitragen, waren sie ihm als kulturkritische Intervention umso wichtiger – er war eben nicht nur „Botschafter“ der deutschsprachigen Literatur, sondern Anwalt ihrer besten Werke.
Einmal hatte seine differenzierte ‚Mission‘ sogar diplomatische Folgen: Als er von der Deutschen Schule in London eingeladen wurde, einen Vortrag über Erich Hackls Die Hochzeit in Auschwitz zu halten und dabei die Vorzüge einer marxistisch geprägten Tradition der „Geschichte von unten“ herausarbeitete, merkte er – sehr zu seiner verschmitzten Freude – wie der deutsche Kulturattaché ihm beim anschließenden Empfang demonstrativ die Hand verweigerte.
Martins Gewandtheit als Verlagsflüsterer und Übersetzer bildete sich schon früh heraus, wie übrigens – wohl gleichzeitig – seine Liebe zum Film. In Bielefeld als Sohn einer deutschen Mutter und eines schottischen Vaters zur Welt gekommen, flüsterte er schon der geliebten deutschen Oma (die Kleinfamilie war 1950 nach Glasgow umgesiedelt, seine Großmutter zog zwei Jahre später nach) während gemeinsam besuchter Glasgower Kinovorstellungen seine Dialogübersetzungen ins Ohr. Das Bedürfnis, die beiden Sprachen und Kulturen miteinander sprechen zu lassen, prägte auch fortan Leben und Arbeit. In Glasgow und Birmingham studierte er Geschichte. Weitere Stationen waren London und Berlin, wohin er 2007 nach Neukölln umzog – oder Rixdorf, wie er den Stadtteil nach einer älteren Namensgebung zu nennen pflegte.
Für Martin hatte dieser Umzug etwas von einem ritorno in patria, denn seine Großeltern mütterlicherseits hatten seit 1925 in Berlin gelebt. Sehnsuchtsvoll begab er sich auf die Suche nach jenem Bauernhof, wo seine Oma im ehemaligen ostpreußischen Angerburg (im heutigen Landkreis Węgorzewo, unweit der litauischen Grenze) als Dienstmagd gelebt hatte. Es heißt, er sei dort fündig geworden.
Ob in London oder später in Berlin zeigte er sich als besessener Stadtwanderer. Dabei zog es ihn – auch im Ausland – immer wieder zu Brücken (gleichsam Wahrzeichen seines Berufs) und Friedhöfen: dem Friedhof der Namenslosen, dem kleinen schottischen Friedhof in Kalkutta, auch dem Alten Matthäus-Kirchhof in Schöneberg, wo er unweit der Gebrüder Grimm seine letzte Ruhe gefunden hat.
Er war in den beiden letzten Jahren seines viel zu kurzen Lebens von Krankheit und Krebsbehandlung gebeutelt, doch in diesen Jahren besuchten ihn alte Freundinnen und Freunde, konnte er sich auf den liebevollen Beistand seiner Partnerin Esther verlassen, übersetzte er weiterhin Bücher von Peter Handke, Alexander Kluge und Sherko Fatah. Zeitgleich arbeitete er an eigenen kurzen Prosaformen: Memoiren, auch schonungslos offene, bisweilen humorvolle Schilderungen seiner Krankenhausaufenthalte. Für Gespräche über Literatur und Leben hat Martin stets hohe Maßstäbe gestellt: Das werden die Vielen, die ihm in Schöneberg das letzte Geleit gaben, schmerzlich vermissen.
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